Andreas Kampa



Chaussee der Enthusiasten


Nachtrag zu den olympischen Spielen

Vor vier Jahren waren ja schon mal olympische Spiele, was man hier nachlesen kann. Dieses Jahr hat mich besonders die deutsche 4x100m-Herren-Staffel überzeugt. Wenn ich mich recht entsinne, war es so gewesen:

Interview

Johannes B. Delling: Hier bei mir ist die deutsche 4x100m-Staffel der Herren. Sie sind alle noch etwas außer Atem, so kurz nach dem Lauf. Zunächst möchte ich Sie beglückwünschen zu der tollen Zeit – nur eine Zehntel über Weltrekord. Alle Achtung! Seit 1960 hat es keine deutsche Herrenstaffel mehr geschafft, als erste bei einem olympischen Finale durchs Ziel zu laufen. Harald, Sie waren der Schlussläufer: Was war das für ein Gefühl, als Sie die Ziellinie überquerten?
Harald: Unbeschreiblich. Einfach fantastisch! Vier Jahre trainiert man für so einen Augenblick, und dann wird der Traum wahr. Dafür hat sich die ganze Quälerei gelohnt. Ich bin überglücklich.
Johannes B. Delling: Nur leider wurden Sie disqualifiziert. Werden Sie Protest einlegen?
Harald: Nein. Ich glaube, das hat keinen Sinn.
Johannes B. Delling: Sind Sie sehr enttäuscht?
Harald: Ehrlich gesagt, hatte ich schon so ein komisches Gefühl, als ich ohne Stab durchs Ziel gelaufen bin. Ich dachte: Wenn sie streng sind, werden sie uns wohl disqualifizieren. Und so kam es dann ja auch.
Johannes B. Delling: Was war denn los beim letzten Wechsel?
Harald: Ich war vielleicht etwas übermotiviert. Man ist schließlich nicht sooft bei olympischen Spielen. Als ich dann den Jamaikaner um die Kurve laufen sah, und dahinter mit gehörigem Abstand den Amerikaner und den Briten, wusste ich: Wenn ich jetzt nicht loslaufe, haben wir keine Chance mehr auf eine Medaille.
Johannes B. Delling: Helmut, Sie waren der dritte Läufer. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie merkten, dass ihr Teamkollege losgelaufen war, ohne auf Sie zu warten? Waren Sie sehr verärgert?
Helmut: Nein, im Gegenteil. Ich war erleichtert, da ich ja selber keinen Stab dabei hatte. Natürlich bin ich trotzdem durchgelaufen. Man ist schließlich nur einmal bei olympischen Spielen. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wie Harald wohl reagieren würde, wenn ich ohne Stab bei ihm ankommen würde. Dann sah ich, dass er schon längst losgelaufen war. Wissen Sie: wenn man 4 Jahre lang jeden Tag zusammen trainiert, dann versteht man sich irgendwann blind.
Johannes B. Delling: Beeindruckend. Aber sagen Sie, Helmut: Warum hatten Sie denn keinen Stab dabei? Was ist schief gelaufen?
Helmut: Das weiß ich auch nicht so genau. Eigentlich klappen unsere Wechsel immer perfekt. Vier Jahre lang haben wir das trainiert. Wir verstehen uns im Schlaf. Aber diesmal war irgendwie der Wurm drin. Ich sehe Otto auf mich zu kommen, laufe los, beschleunige, halte die Hand nach hinten, und auf einmal habe ich die Wechselzone überschritten. Nanu, denke ich, was ist da los?, schaue mich um, und sehe, wie Otto den Stab an den Russen weiter gibt. Viel Zeit zu überlegen bleibt da nicht. Also bin ich einfach weitergelaufen. Man ist schließlich nur einmal bei Olympia. Ich kenne Otto schon seit Jahren. Das ist ein feiner Kerl. Wenn der den Stab lieber dem Russen gibt, wird er schon seine Gründe haben.
Johannes B. Delling: Otto, welche Gründe hatten Sie denn für diesen ... na ja, etwas unorthodoxen Wechsel.
Otto: Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären: Der Stab gehörte dem Russen. Bei meinem Wechsel mit Wolfgang, sehe ich auf einmal, dass Wolfgang keinen Stab dabei hat. In dem Moment lief der Russe an mir vorbei und hielt seinen Stab so nach vorne. Da habe ich instinktiv zugegriffen. Man ist schließlich nur einmal bei Olympia. Vier Jahre lang haben wir hart trainiert. Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein, dachte ich und lief einfach los mit dem Stab des Russen. So nach ca. 50m bekam ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie ist man ja auch Sportsmann. Außerdem war ein wütender Russe hinter mir her. Der wollte den Stab natürlich wieder haben. Ich glaube, ich bin noch nie so schnell die 100m gelaufen. Naja, und beim Wechsel mit Helmut – ich hoffe, du bist mir nicht böse, Helmut – da habe ich den Stab an den russischen Läufer weiter gegeben. Es war schließlich seiner. Und Helmut hat ja, Gott sei Dank, richtig reagiert. Er ist ohne Stab weitergelaufen. So gut wie heute haben wir vier noch nie harmoniert. Und die Laufzeit gibt uns recht. Wir sind die schnellste deutsche Staffel aller Zeiten. Auch wenn wir disqualifiziert wurden: Auf diese Leistung können wir stolz sein.
Johannes B. Delling: Ganz sicher. Noch mal herzlichen Glückwunsch! Bleibt noch die Frage zu klären: Wo ist eigentlich der deutsche Staffelstab? Wolfgang, Sie waren der Startläufer, Sie sollten es doch wissen.
Wolfgang: So kurz nach dem Rennen ist es für eine Fehleranalyse noch zu früh. Wir waren als erste im Ziel; das gibt uns Hoffnung für die Zukunft. Leider wurde das Rennen am grünen Tisch entschieden. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Ich glaube, wir haben trotz der Disqualifikation gezeigt, dass mit den deutschen Sprintern wieder zu rechnen ist. Wir sind in Topform hier angereist. Schon beim Start hatte ich ein gutes Gefühl. Ich bin schnell aus den Blöcken gekommen und konnte die ersten 50m mit der Weltspitze mithalten. Als ich nach 70m auf einmal Otto vor mir auf der Bahn stehen sah, dachte ich: Oh, das ist dann wohl gar nicht das Einzelrennen, sondern die Staffel. Offenbar hatte ich die Termine durcheinander gebracht. Nun war es natürlich zu spät, noch den Stab zu holen. Aber man ist nur einmal bei Olympia. Wir haben schließlich nicht vier Jahre lang trainiert, um nach 70m schon aufzugeben. Also bin ich weiter gelaufen. Ich dachte, Otto wird sich schon zu helfen wissen. Und so war es dann ja auch.
Johannes B. Delling: Ich danke für das Gespräch.