Andreas Kampa



Chaussee der Enthusiasten


Aus dem geheimen Tagebuch des Martin Luther

4. August 1517
Unterredung mit Pater Johann recht erfreulich verlaufen. Er findet meine Thesen interessant. Ich solle aber mal alles sauber aufschreiben, damit man sich ein genaues Bild machen könne.

6. August 1517
Habe Pater Johann meine Thesen schriftlich vorgelegt. Großes Lob seinerseits, allerdings fand er das Wort „Unkraut“ zu scharf. Am besten sei, ich ließe These 11 ganz weg, dann wären es genau 10 Thesen. Eine runde Zahl. Genauso viel wie Gottesgebote. Das hätte Symbolkraft. Ich sagte, ich will es mir überlegen.

7. August 1517
Je länger ich darüber nachdenke, um so wichtiger erscheint mit jeder Satz. Gerade These 11 ist unverzichtbar, auch in der Schärfe. Die Schuldigen müssen benannt werden, sonst bewirkt es nichts. Hat denn Jesus je ein Blatt vor den Mund genommen? Werde mit Pater Johann noch mal reden.

8. August 1517
Unerfreuliches Gespräch mit Pater Johann gehabt. Er beharrt auf zehn Thesen, das hat mich richtig aufgebracht. Es kommt doch auf den Inhalt an! Aber das will er nicht begreifen. Ich solle vernünftig sein. Dabei geht es mir ja um die Vernunft. Im Gegenteil, es wäre unvernünftig auch nur eine These wegzulassen. Doch er: „Luther, Ihre Thesen haben das Zeug zur Weltgeschichte. Aber mit 11 Thesen wird das nichts? Das klingt nicht.“ Da habe ich ihn angebrüllt: „Kleingeistiger Katholik!“ Und er brüllte zurück: „Selber.“ Und ich: „Gar nicht.“ Und er: „Doch.“
Na das werden wir noch sehen.

9. August 1517
Bin immer noch so in Rage, dass ich aus puren Zorn 6 weitere Thesen geschrieben habe. Schön was über Hölle und Fegefeuer, das sich gewaschen hat. Wollen wir doch mal sehen, ob er auch die Stirn hat, mir 7 Thesen zu rauszustreichen.

10. August 1517
Habe eine Nacht drüber geschlafen und mir heute morgen noch einmal in Ruhe meine 17 Thesen durchgelesen. Finde sie immer noch gelungen und unverzichtbar. Pater Johann wird nicht begeistert sein, wenn ich sie ihm zeige. Im Gegenteil, er wird es mir als Trotz auslegen. Er kennt mich zu gut. Aber inhaltlich lässt sich nichts gegen meine Thesen sagen. Das wird auch er einsehen müssen. Vielleicht sollte ich noch zwei versöhnliche Thesen über die Liebe anfügen, um ihn milde zu stimmen.

11. August 1517
Das ist doch nicht ihr Ernst, hat er gesagt. Wollen Sie mich verarschen, Luther? 10 Thesen sollten sie schreiben und jetzt bringen sie mir 19.
Naja. Es war zu erwarten, dass er so reagiert. Habe dann auf ihn eingeredet, er solle sie erstmal lesen, was er schließlich widerwillig tat. Dann hat er nur noch den Kopf geschüttelt. Mensch, Luther, wenn das der Papst liest! Da hab ich gesagt: Ich fürchte mich nicht vor dem Papst, und bin wütend rausgerannt.

12. August 1517
Habe noch ein paar Thesen zum Papst angefügt und den Ablasshandel in aller Deutlichkeit gebrandmarkt. Die Thesen fließen mir nur so aus der Feder. Es ist mir egal, was Pater Johann dazu sagt.

18. August 1517
Ich denke, die Arbeit hat sich gelohnt. Es ist jetzt eine runde Sache. These 36 bringt es zum Abschluss auf den Punkt: „Ein jeder Christ, der wahre Reue und Leid hat über seine Sünden, der hat völlige Vergebung von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief.“ Punkt. Das wird auch Pater Johann überzeugen, denke ich.

20. August 1517
Habe mich mit Pater Johann ausgesöhnt. Er findet mein Werk nun hervorragend. Ich sei ein guter Schreiber, sagt er. Und ein guter Theologe. Er würde noch viel von mir erwarten. Daraufhin habe ich mich bei ihm entschuldigt für den ganzen Ärger. Er sagte nur: „Soll ich dir einen Ablassbrief geben?“ Da haben wir gelacht. Ich denke, nun wird alles gut. Am 4. September soll ich meine Thesen den Kollegen vorstellen.

21. August 1517
Gestern euphorisch zu Bett gegangen. Konnte vor Aufregung kaum schlafen. Habe die ganze Nacht wach gelegen; dabei sind mir noch 15 Thesen eingefallen. Jetzt ist der Schluss nicht mehr so schön. Da muss ich morgen noch mal ran.

25. August 1517
Puh, bin jetzt bei 68 Thesen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Aber die Sache muss hieb- und stichfest sein, wenn ich sie in zehn Tagen den Kollegen präsentieren soll.

30. August 1517
Treffe mich morgen mit Pater Johann. Weiß noch nicht, wie ich ihm erklären soll, dass es nun doch mehr als 36 Thesen sind. Ich muss behutsam vorgehen. Vielleicht bringe ich ihm ein bisschen Gebäck mit, und ein paar Spreewälder Gurken, die er so mag.

31. August 1517
Armer Pater Johann! Das war ein schöner Schlag für ihn, als ich plötzlich mit 81 Thesen bei ihm aufkreuzte. Sind sie wahnsinnig, Luther, wer soll denn das lesen?, hat er gesagt. Es sei so gut gewesen bis These 36, was ich danach noch geschrieben hätte, wäre erstens zu lang und könnte mich zweitens den Kopf kosten. Aber ihm war wohl schon klar, dass ich mich nicht beirren ließe. Er gab mir dann noch den guten Rat, manche Thesen lieber als Frage zu formulieren.

3. September 1517
Habe noch 8 Fragen angefügt. Bin gespannt, wie mein 89-Thesen-Papier morgen ankommen wird.

4. September 1517
Es ist überstanden. Die meisten waren von meinem 95-Thesen-Papier recht angetan. Hauptkritikpunkt: Warum nicht 100 Thesen? Damit könnte ich Weltgeschichte machen. Nun gut: 5 Thesen werde mir wohl noch einfallen.

4. Oktober 1517
Irgendwie fällt mir nichts mehr ein. Ich bin völlig ausgebrannt. Was soll ich nur machen? Mein Kopf ist völlig leer. Ich wünschte, es gebe irgendeine heiße, schwarze Brühe, die den Geist belebt. Oder so kleine Stäbchen, mit denen man sich Weihrauch einpfeifen kann. In diesem Scheißmittelalter gibt es ja noch nicht mal ein weißes Pulver, dass man sich durch die Nase ziehen kann.

28. Oktober 1517
Pater Johann hat unter den Kollegen gefragt, ob denen noch ein paar Thesen einfallen würden, aber offenbar ist ihnen die Sache zu heiß.

31. Oktober 1517: Habe nun eine Anzeige ans Kirchentor geschlagen:


"Suche noch 5 Thesen für mein 100-Thesen-Papier. Bin für jeden Vorschlag dankbar. Gerne auch anonym. Folgende 95 habe ich schon.

Martin Luther."