Andreas Kampa



Chaussee der Enthusiasten


Athazagoraphobie

Ich war ein Turnbeutelvergesser, allerdings nicht, um mich zu drücken, sondern aus Vergesslichkeit. Ich vergesse öfter mal Dinge. Man kann nichts dagegen machen. Außer vielleicht, Gewohnheiten auszubilden. Jeden Tag zur Schule zu gehen, kann man z.B. nicht vergessen, aber dass ausgerechnet heute Sport dran ist, ist wahnsinnig schwer zu merken.
Das Vergessen kommt meist völlig überraschend. Es lässt sich nicht vorhersagen, wann und warum es kommt. Was ich zum Beispiel in der Küche wollte, vergesse ich häufiger. Das Problem ist die Wegstrecke, die ich zurücklegen muss, um in die Küche zu gelangen. Sekunden verrinnen, in denen ich vergessen kann. Im Grunde gibt es kaum etwas Gefährlicheres als den Weg zur Küche, zumindest, was das Vergessen angeht. Manchmal hilft es, den Weg zurückzugehen, sich wie ein Detektiv in den Täter des Vergessens – also mich – hineinzuversetzen. Was habe ich gemacht, kurz bevor ich vergessen habe, woran ich mich nicht mehr erinnere?
Genauso schlimm ist die Wartezeit beim Hochfahren des Laptops. Viel zu viel Zeit vergeht, bis ich endlich bei Wikipedia nachschlagen kann, was ich bis dahin vergessen habe. Es hilft, vorbeugend das Suchwort Mantra-artig vor sich her zu brabbeln: Athazagoraphobie, Athazagoraphobie, Athazagoraphobie ... aha! - die Angst vor dem Vergessen.
Angst ist die logische Reaktion des Körpers auf potentielle Gefahren, auf die sie uns vorbereitet, leider auch, wenn gar kein Grund mehr dazu besteht. Meine Oma hatte in ihren letzten Lebensjahren immer wahnsinnige Angst gehabt, ihre Handtasche zu vergessen, obwohl dort gar nichts mehr drin war; wir kümmerten uns ja um alles, weil sie so vergesslich war. Doch es beruhigte sie, wenn sie ihre Handtasche dabei hatte.
Ich träume heute noch manchmal davon, irgendein Buch der Bibliothek seit Jahren schuldig zu sein, weil ich es einfach vergesse habe. Die Angst ist unbegründet. Sie stammt aus einer Zeit, in der ich mir viel in Bibliotheken ausgeliehen habe. Das ist heute nicht mehr so, trotzdem habe ich manchmal noch Alpträume. Das gemeine an der Angst vor dem Vergessen ist, dass man nie sicher sein kann, ob sie nicht doch berechtigt ist. Habe ich wirklich nichts vergessen, oder kann ich mich bloß nicht daran erinnern? Ein Teufelskreis, der sich noch nicht einmal logisch lösen lässt. Die Angst vor dem Vergessen ist immer berechtigt.
Geradezu teuflisch und – ich möchte sagen – menschenverachtend, ist die moderne Erfindung der Geheimzahlen. Ich wache manchmal schweißgebadet auf, in der Meinung, meine jahrelange Geheimzahl vergessen zu haben. Natürlich kann ich mich in so einem Moment tatsächlich nicht an sie erinnern. Ich versuche mich dann damit zu beruhigen, dass ich sie bisher, wenn es darauf ankam, immer gewusst habe. Aber stimmt das überhaupt, oder kann ich mich bloß nicht daran erinnern?
Erschwerend kommt hinzu, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der meine Geheimzahl kennt. Ich kann sie noch nicht einmal googeln. Ist den Erfindern des Geheimzahlen-Systems eigentlich klar, welchen unmenschlichen Druck das bei Menschen erzeugt, die von sich wissen, dass sie vergesslich sind. Ich wünschte, wenigstens das könnte ich vergessen. Meine Vergesslichkeit scheint aber das einzige zu sein, das ich nie vergessen werde.
Geheimzahlen sind aber noch auf eine zweite Weise gemein. Man sollte sie Gemeinzahlen nennen. Man darf sie nämlich nicht nur nicht vergessen, man darf sie auch niemanden weiter erzählen. Somit steht man gleich doppelt unter Druck. Ich warte auf den Tag, an dem ich träume, meine Geheimzahl im Traum zu verraten und es anschließend sofort wieder zu vergessen. Möglicherweise ist das längst geschehen, ich kann mich ja immer so schlecht an meine Träume erinnern.
Die Angst vor dem Vergessen ist wahrscheinlich die rationalste Angst, die es gibt. Im Gegenteil ist es irrational, keine Angst vor dem Vergessen zu haben. Gerade jetzt, in diesem Moment, könnte jeder von uns etwas ganz, ganz Wichtiges vergessen haben. Ist das nicht der reine Wahnsinn?